Es war eine unglaubliche Leistung jener Männer und Frauen, die sich im April 1945 praktisch von der ersten Stunde weg zur Sozialdemokratie bekannten. Unterdrückung, Verfolgung und Mord, ein Leben unter größten Gefahren konnte ihre feste Einstellung zur Sozialdemokratie, zum demokratischen Sozialismus nicht ändern. Das dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte war in jenen Tagen des April 1945 noch nicht abgeschlossen, als sich Funktionärinnen und Funktionäre aus den Bezirken, frühere Gewerkschafter, Vertreter der beiden Strömungen der Sozialdemokratie, der Revolutionären Sozialisten und der Sozialdemokraten zusammen gefunden haben, um die Sozialistische Partei zu gründen.
Aus den Konzentrationslagern des Dritten Reiches kommend wurde jener Geist „Geist der Lagerstraße“ entwickelt, der Synonym ist für den gemeinsamen Weg der großen politischen Lager und das Bekenntnis in wesentlichen Fragen das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Das war auch schon in jenen Tagen rund um den 14. April 1945 spürbar, als im zerbombten Wiener Rathaus die bis dahin illegalen Funktionäre der Sozialdemokratie zur Neugründung der SPÖ zusammengefunden haben.
Und wie diese Pioniere ihre Aufgabe wahrgenommen haben, als ob es eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre, so sind die Menschen in diesem Land an den Wiederaufbau ihrer Heimat geschritten. Sie sind gekommen, unterernährt von den Kriegsereignissen und traumatisiert, und haben mit den primitivsten Mitteln und teils mit bloßen Händen versucht, ihre Aufgabe wahrzunehmen. Nur ein Jahrzehnt später befand sich Österreich in einem stürmischen Wirtschaftsboom, die beiden großen Parteien waren nun in einer Koalition verbunden und konnten gemeinsam wichtige sozialpolitische und wirtschaftspolitische Aspekte setzen. So war – in Verbindung mit der US-amerikanischen Finanzhilfe – die Wirtschaftspolitik angebotsorientiert und nachfragestimulierend. Es wird vielfach von einer Periode des Wirtschaftswunders gesprochen und dabei haben wir noch heute ganz bestimmte Bilder vor Augen, etwa jene der großen Kraftwerksbauten.
Eine Periode der Stabilität und Prosperität wurde eingeleitet. Die Sozialpartnerschaft hat sich im Lande etabliert und die Interessensgegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wurden in einem institutionalisierten Rahmen ausgetragen. Öffentliche Investitionen, die Vollbeschäftigung und die Hebung des Konsumniveaus waren Ziele der neuen Sozialdemokratie und sie bewirkten die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik.
Und sie bewirkten auch ein Höchstmaß an Identifikation zwischen dem Staat auf der einen Seite und den Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite. Es war vor allem die Erfahrung aus den beiden Faschismen, die Verfolgung und das furchtbare Leid, das diese Bewegung auf sich nehmen musste, die dazu führte, dass in der Zweiten Republik auf diesem konsensualen Rahmen der Reformpolitik und eines grundsätzlich kapitalistischen Wiederaufbaus gesetzt wurde. Das grundlegende Element dieser Politik war die Verwirklichung des Wohlfahrtsstaates, von dem Bruno Kreisky Jahrzehnte später einmal als die größte Errungenschaft des 20. Jahrhunderts sprach. Seit der Ära Kreisky, als die SPÖ erstmals den Bundeskanzler (1970) stellte, wurde diese Linie, verbunden mit einer kulturellen und intellektuellen Öffnung des Landes, perfektioniert und vielfach als österreichischer Weg bezeichnet.
Auf die Energie- und Rohstoffkrisen der 70iger Jahre wurde mit den Mitteln des so genannten „Austrokeynesianismus“ reagiert, in dem vor allem mit Investitionen die Konjunktur angehoben und somit Beschäftigung geschaffen werden konnte. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden dann viele sozialdemokratische Grundsätze – im Gefolge des neoliberalen Projekts und einer zunehmend globalen kapitalistischen New Economy – neuerlich verändert und auch die Sozialdemokratie hat die Aushöhlung der solidarischen Mechanismen und wesentlicher Elemente des Wohlfahrtsstaates nicht immer durchschaut oder auch nicht entsprechend verhindern können.
Als dann 2008 und 2009 die große Weltwirtschaftskrise mit voller Wucht Europa und die Welt erfasste, waren es wieder sozialdemokratische Konzepte der staatlichen Interventionen und der Sicherung des Wohlfahrtsstaates, die geholfen haben, dass Österreich zu jenen Ländern zählte, die am wenigsten hart von dieser Krise getroffen wurde; eine Krise, die allerdings noch immer nicht ausgestanden ist und die auch theoretisch hinterfragt werden muss.
Aber nicht nur eine ganz bestimmte, von den Sozialdemokraten an führender Stelle mitverantwortete Wirtschaftspolitik zählt zu den Erfolgsgarantien dieser Zweiten Republik, wesentliche Elemente waren auch der Staatsvertrag und die Neutralität –beides 1955 und beides in einem engen Zusammenhang. Österreichs Weg in die Freiheit war verbunden mit dem Bekenntnis zur immerwährenden Neutralität des Landes. Und obwohl das Wort, der Begriff in keiner Weise mit dem Österreichischen Staatsvertrag verbunden ist, war es die Voraussetzung für diesen Weg. Otto Bauer hat bereits 1933 die Neutralisierung Österreichs angeregt und der SPÖ-Parteitag 1947 hat sich zur Neutralität bekannt. Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages und dem Abzug der fremden Truppen aus Österreich war nun der Weg in die Freiheit sicher. Wir sind den Weg des Aufbaus eines sozialen Wohlfahrtsstaates gegangen.
Und ein Herzstück dieses Weges ist das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz aus dem Jahre 1955, die „Magna Charta“ der Österreichischen Sozialversicherung. Für alle unselbstständig Erwerbstätigen bedeutete dies die Schaffung der Vollversicherung, also der Pflichtversicherung aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung. Diese Reform wurde ab 1950 auf starke Initiative des ÖGB und des Hauptverbandspräsidenten Johann Böhm in Angriff genommen. Und diese Entwicklung steht im großen Zusammenhang mit der österreichischen Sozialpartnerschaft. Jener nahezu institutionellen Mechanisierung politischer Auseinandersetzung, die, ohne niedergeschrieben zu sein, dem Land Prosperität und Wohlstand verschafft hat. Heute ist es unser vornehmes Ziel, den Sozial- und Wohlfahrtsstaat zu sichern, zu verteidigen und, wo immer sich die Chance und Möglichkeit ergibt, punktuell zu verbessern.
Mit der Ära Kreisky, die 1970 mit der Angelobung zum Bundeskanzler und 1967 mit der Wahl zum Bundesparteivorsitzenden begonnen hat, wurde die erfolgreichste Phase der Geschichte der Österreichischen Sozialdemokratie eingeleitet. Es war dies der Weg in ein modernes Österreich, getragen von einer klaren Distanzierung zum Kommunismus und der Aussöhnung mit der katholischen Kirche. Der Beginn der Ära Kreisky war von einer intensiven Reformpolitik gekennzeichnet, die Themen wie Wahlrecht, Bundesheer, Pensionserhöhung, Progressionsmilderung für kleine Einkommen, Bergbauernförderung, Förderung von Wissenschaft und Kunst und vieles andere mehr kennzeichnete. Das war auch der Grund, warum der SPÖ 1971 erstmals die absolute Mehrheit erhalten hat. Verbunden war das mit Begriffen wie Europareife, Demokratisierung aller Lebensbereiche, Kampf gegen die Armut, Kampf um ein liberales gesellschaftliches Klima, Chancengleichheit – kurz, eine Reformpolitik, die alle gesellschaftlichen und politischen Bereiche umfasste. Exemplarisch seien hier genannt: die rechtliche Gleichstellung der Frau, die Schaffung des Umwelt- und Gesundheitsministeriums, die Volksanwaltschaft, die 40-Stunden-Woche, mehr Mindesturlaub, Einführung des Zivildienstes, Einführung der Fristenlösung, Mutter-Kind-Pass, Mitbestimmung an Schulen und Universitäten, und die aktive Neutralitäts- und Außenpolitik, die darin gipfelte, dass Wien zum dritten Sitz statt der Vereinten Nationen auserkoren wurde.
Die Reformen in Wissenschaft und Justiz und im Bildungsbereich, sowie in den Bereichen Kunst und Kultur, haben die Liberalität, die Weltoffenheit und das Bekenntnis zum intellektuellen Diskurs zum Ausdruck gebracht. Programmatisch hat sich die Partei 1978 im Parteiprogramm zu einer Weiterentwicklung der politischen Demokratie hin zu einer sozialen Demokratie (wie Kreisky immer sagte: nach schwedischem Vorbild) bekannt.
Am Ende der Ära Kreisky haben sich die internationalen Krisen verdichtet und der internationale Trend des Neo-Konservativismus und Neoliberalismus (getragen durch Thatcher und Reagan) war zunehmend auch in Österreich spürbar. Der Verlust der absoluten Mehrheit 1983 (mit immerhin 90 Mandaten) war Ausdruck eines breiten gesellschaftlichen Wandels.
1995 ist Österreich der Europäischen Union beigetreten und es war schon Kreisky als Außenminister, der das 1964 erstmals thematisch angesprochen hat. Zu diesem Zeitpunkt war eine volle Integration allerdings noch nicht möglich: aufgrund der weltpolitischen Konstellation und einer nicht verhandelbaren Haltung der Sowjetunion, wie auch bedingt durch das Anschlussverbot im Österreichischen Staatsvertrag. Österreich hat sich aber in den 70iger und 80iger Jahren bestmöglich über Freihandelsabkommen und die EFTA-Mitgliedschaft beteiligt.
Nach dem weltpolitischen Wandel Ende der 80iger, anfangs der 90iger Jahre hat sich auch für unser Land eine neue Perspektive eröffnet. Die von Franz Vranitzky angeregte Entscheidung der SPÖ für einen Beitritt zur Europäischen Union war das Ergebnis einer intensiven und auch kontroversiellen Diskussion, in der sich die Mehrheitsauffassung durchsetzte, dass die Inhalte sozialdemokratischer Politik nunmehr in einem größeren Rahmen zu sehen und durchzusetzen sind.
Die Zweite Republik war gekennzeichnet durch einen starken Fokus auf Wirtschafts- und Sozialpolitik. So wurde der Wirtschaftsstandort Österreich in Verbindung mit einer aktiven Außenpolitik gestärkt und das vorrangige Ziel war die Herstellung von Vollbeschäftigung bzw. die Schaffung von Arbeit. In den 80er und 90er Jahren wurde der Sozialstaat im Sinne der internationalen Gegebenheiten umgebaut, aber definitiv nicht abgebaut. Der Sozialdemokratie ist diese Gratwanderung in besonderer Weise geglückt und es ist gelungen, durch eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, die Massenkaufkraft der Konsum- und Freizeitgesellschaft hoch zu halten. Praktisch über den gesamten Zeitraum der 90iger Jahre lag das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in Österreich deutlich über jenem des EU-Durchschnittes.
Die Sozialdemokratie hat in ihrer Sozialpolitik in der Zweiten Republik auf sozialstaatlichen Konzepten aufgebaut, wie sie am Beginn der Ersten Republik vor allem im Roten Wien skizziert und begonnen wurden und in ihren damaligen Elementen bis zur großen Weltwirtschaftskrise und den Faschismen Bestand hatten. In den 70iger Jahren kam es dann zu einer großen sozialpolitischen Offensive, die in enger Abstimmung zwischen Partei und Gewerkschaft erfolgte und in gewaltigen sozialpolitischen Leistungen mündete. Der Ausbau der Rechte der arbeitenden Menschen, Investitionen in das Gesundheitssystem, in die Pflichtversicherungen, für Mütter, auch für alleinstehende Mütter und im Pflegebereich: all das wurde entsprechend verankert. In der Bildungspolitik war es vor allem unter der Verantwortung von Fred Sinowatz und Hertha Firnberg so, dass in der Periode des Ministers Sinowatz in Österreich mehr Schulen gebaut worden sind als in den siebzig Jahren davor und im Besonderen wurde auf den Ausbau des berufsbildenden Schulwesens, vor allem im ländlichen Bereich, größter Wert gelegt. Schülerfreifahrt, freie Schulbücher und der freie Zugang zu Bildungseinrichtungen waren oberste Zielsetzungen. Programmatisch ging es um die Herstellung echter Chancengleichheit, unabhängig von der sozialen oder materiellen Stellung der Eltern bzw. der Familie. Pädagogisch wurden moderne Konzepte eingesetzt und die Voraussetzung für deren Gelingen war die Senkung der Klassenschülerhöchstzahlen. Gleichzeitig gab es eine Öffnung der Universitäten und eine Demokratisierung der Hochschulstrukturen.
Mit den großen Justizreformen von Christian Broda wurde nicht nur der Aspekt der Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie akzentuiert, sondern auch die Öffnung der Gesellschaft symbolisiert. Gleiches geschah im Bereiche der Kultur und schon in der Regierungserklärung 1970 wurde von der kulturellen Aufrüstung und dem freien Zugang der Menschen zu den großen Kultureinrichtungen gesprochen.
Auch und gerade in der Frauenpolitik konnte die Sozialdemokratie, getragen von Persönlichkeiten wie Rosa Jochmann, Hertha Firnberg und Johanna Dohnal und vielen anderen mehr, wesentliche Meilensteine setzen. Das Familienrecht wurde modernisiert und die Rolle der Frau auch rechtlich entsprechend dargestellt. Mit der Ernennung von Johanna Dohnal zur Staatssekretärin für Frauenfragen 1979 und später zur ersten Frauenministerin erhielten die Frauen eine starke Stimme in der Regierung. Mit der Beschlussfassung der Fristenregelung 1975 mit den Stimmen der SPÖ wurde zudem ein gesellschaftspolitisch wichtiger und nicht hoch genug einzuschätzender Aspekt zur Emanzipation der Frauen gesetzt. Die SPÖ ist immer zum Grundsatz der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruches gestanden. Das Gewaltschutzgesetz und viele andere sozialpolitische Maßnahmen haben geholfen, die Rolle und Rechte der Frau in der Zweiten Republik wesentlich zu verändern.
In der Außenpolitik hat Österreich durch eine aktive Neutralitätspolitik und ein verstärktes Engagement im Rahmen der Vereinten Nationen internationales Ansehen gewonnen; vor allem das Instrument der Sozialistischen Internationale wurde engagiert eingesetzt. Namen wie Willy Brandt, Olof Palme, Bruno Kreisky oder Felipe Gonzales sind nach wie vor gegenwärtig. Sie haben durch unzählige Friedensinitiativen der Sozialdemokratie auch international ein entsprechendes Profil gegeben. Mit der Diskussion um die Kriegsvergangenheit des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kurt Waldheim im Zuge des Bundespräsidentenwahlkampfes 1986 wurde allerdings eine Spaltung der österreichischen Gesellschaft offenbar und dem Ansehen Österreichs international großer Schaden zugefügt. Die Waldheim-Zeit hat uns wachgerüttelt, dass das Zudecken von Gräben der Geschichte auf Dauer nicht möglich sein kann. Sie hat, vielleicht nicht unmittelbar, aber mittelfristig ganz bestimmt, eine intensivere Aufarbeitung der Österreichischen Geschichte zur Folge gehabt. Und die Worte von Bundeskanzler Franz Vranitzky 1993 vor dem Israelischen Parlament, der Knesset, haben Platz in den Geschichtsbüchern der Zweiten Republik gefunden: Es war Vranitzky, der die Rolle vieler Österreicherinnen und Österreicher als Täter der NS-Mordmaschinerie angesprochen hat.
Die Krise der Jahre 2008 und 2009 hat uns gelehrt, dass das System des Neoliberalismus und Neokapitalismus zum Scheitern verurteilt war und dass es, mit gutem Grund, zu einer Rückkehr sozialdemokratischer Politikinhalte kommen muss. Die Renaissance der Sozialdemokratie ist so aktuell wie kaum zuvor. Und die Grundfragen sind auch unter geänderten wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen die Gleichen: nämlich die Frage nach einer gerechten Verteilung des Wohlstandes, nach Modernisierung, eines Bekenntnisses für ein gemeinsames friedliches und soziales Europa, einer starken Betonung der Faktoren Bildung, Wissenschaft, Forschung, Innovation und Technologie, weil dies jene Bereiche sind, über die Arbeit geschaffen werden kann. Die Bekämpfung der Armut und die Sicherung der sozialen Systeme wird immer Teil der sozialdemokratischen Grundsätze sein, ebenso wie Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit, Freiheit und Demokratie.
Gerade die Demokratie und das Bekenntnis zu den Grund- und Freiheitsrechten, zu den Menschenrechten sind in einer Zeit zunehmender Extremismen, die nicht zuletzt unter dem Vorwand der Religion entstehen, von entscheidender Bedeutung. Der Rechtsstaat als Konsequenz der Demokratie ist mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu schützen, zu sichern und notfalls auch zu verteidigen. Dennoch braucht Europa eine intensive Wertediskussion, eine Rückkehr zu den Grundwerten und eine Besinnung auf die zentralen humanistischen Werte, denen sich die Sozialdemokratie mit so großem Erfolg über so lange Zeit verbunden fühlt. Auf der Basis einer großen Tradition und unerschütterlicher Grundsätze liegen unsere Gestaltungsspielräume für eine moderne und zukunftsorientierte Politik.
Gerhard Schmid und Wolfgang Maderthaner